Krasse Kacke

 

Wenn die Verzweiflung besonders groß ist, tun Menschen die absonderlichsten Dinge.
Was soll ich sagen. Die Verzweiflung ist groß und ich bin ein Mensch. Nach ca. dreieinhalb Jahren Locationsuche in Essen, wage ich heute zum ersten Mal den Schritt und schaue mir ein vielversprechend aussehendes Objekt in einer fernen Stadt an – in Mülheim an der Ruhr.
Woher ich weiß, dass es vielversprechend aussieht? Bilder aus dem Internet. Eine sehr vertrauenswürdige Quelle. Denn was haben Bilder und das Internet gemein? Richtig, sie lügen nie.  
Der Besichtigungstermin ist um 12:15 Uhr. Mit dem Rad benötige ich etwa eine halbe Stunde bis nach Mülheim, dank der großartigen Fahrradtrasse. Ja, das meine ich genau so. Nicht alles ist schlecht in Essen.

Ich hole also Punkt 11:30 Uhr Jolly Jumper aus dem Keller.
Nein, ich nenne mein Rad nicht wirklich Jolly Jumper, aber mir gefällt der Gedanke, am Ende dieses erfolgreichen Abenteuers mit einem Grashalm im Mund in den Sonnenuntergang zu radeln.
25 Minuten später stehe ich vor der Tür der ehemaligen Gastronomie in Mülheim. Die Lage ist schön zentral, die Hoffnung steigt.
Das Sonnenlicht mit der Hand abschirmend, versuche ich einen Blick durch die Scheibe ins Innere zu werfen. Ich kann eine Frau erkennen, die zu mir heraus schaut, aber nicht reagiert. Nun ja, ich bin ja auch noch 20 Minuten zu früh.

Also beschließe ich, mich solange an die 100 Meter entfernte Ruhr zu setzen.
Ja, in Mülheim fließt die Ruhr tatsächlich durch die Stadt und streift nicht, wie in Essen, lediglich sehr spät eingemeindete Stadtteile, die vermutlich nur aus genau diesem Grund eingemeindet wurden, um nämlich behaupten zu können, Essen läge an der Ruhr. Tatsächlich liegen sogar zwei der schönsten Stadtteile an der Ruhr. Der eine ist Werden, den ich schon viele Jahre vor meinem Umzug nach Essen kennengelernt hatte, und der mich bezüglich des optischen Erscheinungsbildes Essens auf eine völlig falsche Fährte gelockt hat. Der andere ist Kettwig.
Nun muss man wissen: Essen-Kettwig hat mit Essen in etwa soviel zu tun wie der Flughafen Düsseldorf-Weze mit Düsseldorf. Möglich, dass Kettwig nicht wegen der Ruhr eingemeindet wurde, sondern in der Absicht, hier einen Flughafen für Billigflieger zu installieren. Offensichtlich hat man sich aber dann doch anders entschieden, da man vermutlich erkannt hat, dass man all die Vorteile eines Flughafens ja schon durch den wenige Kilometer entfernten Düsseldorfer Flughafen hat: Echte fliegende Flugzeuge, zum Greifen nah und eine akustische Untermalung, wie man sie nur von solch traumhaften Orten wie dem Nürburgring zur Formel 1 Saison kennt.  Kein Wunder, dass die Immobilienpreise in Kettwig permanent steigen.

Ich sitze also an der Ruhr, blicke verträumt übers Wasser und versuche mir die Überschrift vorzustellen:
Fabelhaft – das Brettspielcafé in Mülheim an der Ruhr, ganz nah bei Essen, der Stadt mit der weltgrößten Spielemesse, die sich seit Jahren erfolgreich gegen ihr eigenes Spielecafé wehrt. Hm… mit Schriftgröße 2,5 kriege ich das sogar in eine einzige Zeile.

Als ich pünktlich um 12:15 Uhr wieder vor dem Laden stehe, öffnet mir die Maklerin die Tür. Und schon ihr erster Satz überzeugt: „Normalerweise macht ja mein Chef die Besichtigungen, aber der kann heute nicht. Wenn sie also Fragen haben, müssten sie sich an ihn wenden.“ Und, wie um ihr herausragendes Verkaufstalent unter Beweis stellen zu wollen, fügt sie hinzu: „Jetzt schauen sie halt mal. Der Laden steht schon recht lange leer. Bisher wollte ihn niemand haben. Allen waren die Kosten zu hoch, die man hier noch reinstecken müsste.“ Recht lange präzisiert sich auf Nachfrage zu zehn Jahre. Und ja, ich kann erkennen, was sie meint mit zu hohen Kosten. Die Abluft in der Küche hat (hoffentlich) schon mal bessere Tage gesehen, die Decken zeugen von diversen Wasserschäden, ein Kühlraum ist … naja … vorhanden.

Aber weil ich mir, wenn ich schon mal vor Ort bin, gern alles anschaue, ringe ich mich zu dem Satz durch: „Und wo sind die Toiletten?“
„Die sind hier im Keller“ sagt die Maklerin und deutet auf eine geschlossenen Tür. „Sie können sie gern anschauen, aber das Licht im Keller ist kaputt“.
Natürlich ist es das, denke ich mir. Es wäre in der Tat das erste Mal, dass das Licht im Keller eines Objekts, das ich mir anschaue, nicht kaputt wäre. Und selbstverständlich kommt auch niemand auf die Idee, mal eine neue Birne einzudrehen oder wenigstens eine Taschenlampe mitzubringen, wo das Problem ja offenbar bekannt ist.

Ich zücke also mein Smartphone, schalte die Taschenlampenfunktion ein und öffne, ohne schlimmeres zu ahnen, die Tür.
Ich muss wohl gerade ausgeatmet haben, denn erst nachdem ich zwei Stufen die Treppe hinuntergegangen bin, haut mich ein bestialischer Gestank fast aus den Socken.
In der falschen Annahme, Menschen könnten Ironie erkennen, wenn sie sie hören, sage ich zu der Maklerin: „Hm, ich glaube, hier riecht’s ein wenig.“
„Meinen sie? Ja ein bischen vielleicht“.
Dieser Satz kam so unschuldig und überzeugend, dass ich mir bis heute nicht sicher bin, ob sie zu dieser Zeit an einer akuten Covid-19 Erkrankung litt, mit den typischen Symptomen Verlust des Geruchs- und Geschmacksinns, oder ob ich in Sachen Ironie meine Meisterin gefunden habe.

Tapfer kämpfe ich mich dennoch bis nach unten, wobei mir mehrmals der Gedanke kommt, vielleicht eine geheime Produktionsstätte für chemische Kampstoffe entdeckt zu haben.
Ich werfe einen Blick in die linke Kabine – den Umständen entsprechend ist hier alles in Ordnung.
Ein Blick in die rechte Kabine … Ich drehe mich um und rufe zu der Maklerin hinauf (sie ist oben geblieben, sicher weil sie eine tiefsitzende Angst vor Treppen hat) „Ich habe den Übeltäter gefunden!“
Ich gebe zu, es ist auf eine erschreckende Art faszinierend, zu sehen, was passiert, wenn man vor 10 Jahren auf einer Toilette vergessen hat, den Abzug zu drücken.
„Vielleicht sollte man hin und wieder spülen, vor allem wenn … naja… Material in der Schüssel ist.“ Rufe ich.
„Da haben sie recht, kann ich mir kurz ihr Handy ausleihen?“ fragt sie. „Gern, aber bitte nicht fallen lassen“, antworte ich und bewundere den Mut der Frau, als sie ohne zu zögern in der Kabine verschwindet.

Zurück im Tageslicht und nachdem ich mich vergewissert habe, dass meine Haut keine Blasen wirft, danke ich der Maklerin für die kleine Führung und eröffne ihr, dass ich grundsätzlich über alles erst eine Nacht schlafe, bevor ich eine Entscheidung treffe, dass das in diesem Fall aber wohl eher nicht notwendig sei.
Wir verabschieden uns und ich gehe nach draußen.

Es ist 13:30 Uhr als ich wieder auf der Trasse nach Essen bin. Irgendetwas stimmt nicht, denke ich mir. Es fehlt etwas. Ach ja, der erfolgreiche Abschluss eines Abenteuers und der Sonnenuntergang.
Ich tätschle die Mittelstange meines Fahrrads und murmle: „Nur Mut Rosinante, das wird schon noch.“