Die kleinen Dinge

ein ganz normaler Tag

 

Es ist Montagmorgen. Ich weiß, etwas klischeehaft für das, das da kommen wird, aber es entspricht nun mal der Wahrheit.

Heute steht ein weiterer Besichtigungstermin einer Gastrofläche in der Essener Innenstadt an. Die Größe würde passen, die Bilder, die auf dem Immobilienportal eingestellt sind, sehen auch ganz anständig aus. Der Preis … naja, eigentlich ein wenig zu hoch. Die Lage … sehr zentral in Uninähe, aber in einer Straße, die … sagen wir, einen gewissen Ruf hat. Aber hey, denk positiv, anschauen kostet nichts … wer weiß.

Ich verbringe den Vormittag damit, ein wenig an der Fabelhaft Website zu basteln. Kurz bevor ich los fahren will, ruft mich meine Frau von der Arbeit an.
„Wir haben einen Coronafall im Labor, eine der Doktorandinnen, obwohl alle doppelt geimpft sind und wir uns regelmäßig testen. Alle anderen sind negativ getestet, auch bei besagter Person steht das PCR Ergebnis noch aus. Aber sicher ist sicher.“

Hatte ich schon erwähnt … Montagmorgen.  

Auch ich bin bereits durchgeimpft. Aber man weiß ja nie. Also nehme ich mir ein Testkit und beschließe, mich selbst zu testen. Noch vor zwei Tagen musste ich mich für eine Veranstaltung in einem offiziellen Testzentrum testen lassen. Daran muss ich denken, als ich mir das Stäbchen in die Nase schiebe.
Ein bischen wie beim Sex, es macht einen Unterschied, ob man sich selbst im Kleinhirn herumfuhrwerkt, oder ob das jemand anderes macht. Mir schießen die Tränen in die Augen; ein gutes Zeichen, dass ich tief genug drin war. Jetzt in die Testlösung, dann auf den Streifen, 15 Minuten warten… puh negativ.

In einer halben Stunde ist der Termin. Ich schwinge mich auf‘s Rad und werde auf den knapp drei Kilometern bis in die Innenstadt nur ein einziges Mal fast von einem Auto überfahren. In Essen gibt es jetzt diese Fahrradstraßen. Da werden Autofahrer neuerdings dafür haftbar gemacht, wenn sie Fahrradfahrer umfahren. Eine Maßnahme, die zu helfen scheint.

Ich bin etwas zu früh dran, also spaziere ich noch ein wenig in der Umgebung herum. Für Essener Verhältnisse, gar nicht so wenig Betrieb. Ich biege in meine Zielstraße ein. Und mit jedem Schritt, den ich der genauen Adresse näher komme, beschleicht mich ein zunehmend beklemmendes Gefühl.
War da gerade ein Orstschild auf dem „Innsmouth“ stand? Nein, meine Augen spielen mir Streiche. Dennoch, obwohl es ein Montagnachmittag im August ist, fühle ich mich in dieser Straße nicht wohl in meiner Haut. Alles in mir schreit: „Hier willst du nicht sein.“

Vor dem Lokal erwartet mich ein junger Mann. Wir gehen hinein und ich schaue mich in dem durchaus liebevoll ausgebauten Restaurant um. Hm, keine Stellfläche für Spieleregale. Eigentlich ist jetzt schon klar, dass das hier nicht das Richtige ist. Aber wenn ich schon mal hier bin…
Wir kommen ins Gespräch und den Ruf dieser Straße im Hinterkopf, sowie meine Eindrücke beim Herlaufen, frage ich ihn, wie denn hier so die Umgebung sei.
Antwort: „Ach, eigentlich gibt es keine Probleme. Die machen Ihres und lassen uns in Ruhe“.
Kurz flackert wieder das Bild der Fischmenschen aus Innsmouth aus H.P. Lovecrafts Erzählung in meinem Kopf auf.
Dann mache ich mir klar, dass wir hier von Essen reden und ich weiß genau, was er meint – leider.
Wir reden weiter und ich erwähne, dass die Stadt Essen ja plant, hier ein neues Gastroviertel zu etablieren, und die Gegend aufgewertet werden soll. In Ansätzen ist das in der Tat hier und da zu erkennen. Aber es bleibt noch viel zu tun – sehr viel. Und meine Erfahrungen sagen mir, dass die Mühlen sehr langsam mahlen. Außerdem sind die Verantwortlichen immer wieder völlig überrascht, wenn man ihnen sagt, dass man oben auch Getreidekörner einfüllen muss, wenn man will, dass unten Mehl rauskommt.
Ich schaue mir noch die Küche, die Zapfanlage und den Keller an und gehe dann wieder nach draußen.

Die Gassen von Innsmouth haben mich wieder.
Ich schlendere langsam zu meinem Fahrrad zurück, wobei ich dieses Gefühl der Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit nicht los werde.
Hier wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern; eine verlorene Stadt oder zumindest ein verlorener Stadtteil. Das ist keine Schwarzmalerei, sondern eine nüchterne Erkenntnis.

Um den restlichen Tag noch sinnvoll zu nutzen, beschließe ich in den Süden Essens zu fahren, den Teil der Stadt, der noch lebenswert ist, der jung ist, der alternativ ist, der mich aufmuntern soll.
Das genaue Ziel ist ein Reparaturladen für Smartphones. Es ist an der Zeit, die Spiderapp inklusive ihrer drei Updates von meinem Handy (sagt man das noch offiziell, oder ist der Begriff mit den Nokiaknochen offiziell ausgestorben?) entfernen zu lassen.
Nicht dass, das nicht auch Vorteile hätte. Wenn ich alle Schaltjahre mal ein Selfie für irgendwelche Socialmedia-Kanäle machen muss, kann ich mir dadurch teure Schönheitsfilter sparen. Ein Riss geht nämlich genau über die Kamera, wodurch jedes Foto wie weichgezeichnet wirkt.
Aber beim Wischen über das Display, kann es schon mal passieren, dass man sich blutige Finger holt.

Mein Weg führt mich zunächst entlang einer Hauptverkehrsstraße. Weil mir mein Leben immer noch lieb ist, weiche ich bei nächster Gelegenheit auf den Gehweg aus, der für Fahrradfahrer freigegeben ist. An der nächsten großen Kreuzung geht’s nicht weiter. Der Übergang ist aus unersichtlichen Gründen für Fußgänger und Fahrradfahrer gesperrt. Ein ganz normaler Vorgang. Das Absperren von Wegen und die dem Absperren zur Begründung dienenden Bauarbeiten, finden zeitlich und räumlich in ganz unterschiedlichen Universen statt.
Ich bin mir sicher, schlaue Menschen können das Quantentheoretisch irgendwie erklären. Ansonsten müsste man zu dem Schluss kommen, dass das gar keinen Sinn ergibt – Wege zu sperren, ohne dass dann irgendwas passiert.
Ich biege ab auf eine der neuen Fahrradstraßen und stehe die nächsten 5 Minuten in einem Autostau, fühle mich aber privilegiert, weil ich nicht am Rand, sondern ganz stolz mitten auf der Straße zwischen den sich stauenden Autos stehen darf – tolle Sache, diese Fahrradstraßen.
Als ich Essens angesagteste (und einzige) Ausgehmeile überquere, werfe ich einen Blick nach rechts.
Auch das ist jetzt eine Fahrradstraße mit dem obligatorischen Autostau. Aber seit neuestem sitzen Menschen hier nicht nur in, sondern auch vor den Cafés und Restaurants.
Vor Corona noch undenkbar. Wozu so ein Virus doch gut sein kann.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, das Virus möge uns doch bitte noch eine Weile erhalten bleiben. Denn ich fürchte, ist es erstmal vorbei, besinnt man sich schnell wieder der alten städtebaulichen Werte: Wir bauen Städte für Autos, nicht für Menschen.

An der nächsten Kreuzung schiebt sich eine Blechlawine enormer Ausmaße an mir vorüber. Endlich wieder Normalzustand. Die Stille und die unerträglich leeren Straßen zu Zeiten des ersten Lockdowns sind zum Glück längst vorbei.
Der prozentuale Anteil dieser schicken SUVs scheint über Corona nochmal zugenommen zu haben. Und keiner überschreitet sein zulässiges Ladegewicht, denn in jedem sitzt nur ein Mensch.
Wieviele Fahrradfahrer man wohl bräuchte, um denselben Raum einzunehmen?
Ich muss an eine Fernsehsendung denken, in der der VW Chef mit strahlenden Augen seine feuchten Träume fomulierte, indem er feststellte, dass mit der E-Mobilität ja nicht weniger, sondern noch mehr Autos auf die Straßen kommen.
Hm, wenn ich mich so umschaue, genau das was wir brauchen – noch mehr Autos.
Kurz simuliere ich für mich die Stadt der Zukunft. Ich halte mir Ohren und Nase zu und verdopple in Gedanken die Blechmenge, die sich vor mir ausbreitet.
… Tatsächlich – gleich viel besser.

In meinem Zielgebiet angekommen, gehe ich in den besagten Laden, gebe mein Handy ab und sage dem Mobilphonedoktor, er solle bei der Gelegenheit auch gleich den Akku austauschen – eine Maßnahme von der ich mir erhoffe, in Zukunft wieder länger als eine Stunde von einem Stromnetz entfernt sein zu können.
Ich könne es in 40 Minuten wieder abholen, dann sei alles erledigt.
Ohne die leiseste Ahnung, wie ich ohne Smartphone wissen soll, wann 40 Minuten um sind, aber gleichzeitig mit dem erhebenden Gefühl, soeben irgendwas zwischen 500 und 900 Euro im Vergleich zu einem neuen Smartphone, gespart zu haben, trete ich wieder auf die Straße.
Gleich gegenüber ist eine Bäckerei mit zwei Tischen vor der Tür. Kurz überlege ich, dort einen Kaffee zu trinken und in Gedanken bis 2400 zu zählen, entscheide mich aber dann doch dafür die Straße weiter gen Süden zu marschieren.
Nach wenigen Metern komme ich an einem schönen Ladenlokal vorbei, das ich mir auch gern angeschaut hätte. Leider war ich damals zu spät dran. Denn als ich mit dem zuständigen Makler telefoniert hatte, sagte er mir, dass sie gerade im Endstadium der Verhandlungen mit einem anderen Interessenten seien.
Das war vor einem halben Jahr.
Mittlerweile hängt ein Plakat im Fenster. Eine neue Burgerkette, die sich auf Lieferservice spezialisiert, sucht einen Franchisenehmer. Ansonsten ist der Laden komplett leer.
Auf der anderen Straßenseite ist ebenfalls ein Ladenlokal, das ich mir angeschaut hatte. Ich war nicht abgeneigt es zu nehmen. Über drei Monate hinweg habe ich den Makler immer wieder angerufen und jedes Mal habe ich die Antwort bekommen: „Am Freitag weiß ich mehr, ich rufe sie dann ganz bestimmt an.“
Der Laden steht immer noch leer. Es hängt immer noch das „zu vermieten“ Schild im Fenster.
Ich merke, wie meine Stimmung im Erdgeschoss gerade die Tür zum Keller öffnet.

Nach gefühlten 15 Minuten – ich habe nicht gezählt – nimmt der Kaffee- und Bäckereigedanke in meinem Kopf wieder Form an. Zum Glück kenne ich eine Bäckerei gleich ums Eck.
Ich gehe hinein. Es gibt noch ein Brot, eine Handvoll Brötchen und zwei Knusperstangen. Etwas ernüchtert schaue ich auf die Auslage. Naja, denke ich, die schließen ja bereits in zwei Stunden. Immerhin wird hier nichts weggeworfen.
Um das Gefühl eines Erfolgserlebnisses zu haben, kaufe ich eine der beiden Knusperstangen und mache mich wieder auf den Rückweg, mit dem Plan, doch bei dem ersten Bäcker noch einen Kaffee zu trinken.

Als ich in Gedanken verloren den Gehweg entlang laufe, fällt mir aus den Augenwinkeln ein älterer Mann auf, der neben mir hergeht. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er neben mich getreten war. Er sieht missmutig aus, die Mundwinkel nach unten gezogen.
Weil ich weiß, wie gut ein Lächeln tun kann, selbst oder gerade wenn es von einem Fremden kommt, drehe ich den Kopf und lächle ihn freundlich an. Und siehe da, er lächelt sofort zurück. Siehst du, funktioniert, denke ich.
In diesem Moment verschwindet der Fremde von einem Schritt auf den anderen und ich stehe vor einer grauen Hauswand.  Verwirrt schaue ich mich um. Ich gehe einen Schritt zurück und stehe vor einem Schaufenster. Mein eigenes Spiegelbild schaut mich misstrauisch an.
Wie man sich manchmal täuschen kann. Es war kein alter trauriger Mann, sondern ein durchaus attraktiver, sehr jugendlich wirkender Mann mit entschlossenem Blick und einer Knusperstange in der Hand.
Es lebe die Macht der Einbildung.

Endlich komme ich bei meinem ersten Bäcker an. Ich gehe hinein und bestelle einen Cappuccino und ein Birchermüsli. Ich bin der einzige Gast.
Draußen stehen zwei Tische, in gebührendem Abstand zueinander. Ich setze mich und fülle das Coronaformular mit meinen Kontakktdaten aus: Name, Anschrift, Telefonnummer, E-Mail, ein Feld für die Unterschrift. Ich verstehe das. Für den Fall, dass ich Micky Mouse als Name angebe und mit Goofy unterschreibe, fällt das auf und sie können mich kriegen, im Falle dass … ja, wann eigentlich?
Einen Moment überlege ich, ob ich in die letzte freie Zeile noch meine Schuhgröße eintragen soll, lasse es dann aber. Es gibt Zeiten in denen man Humor vorsichtig dossieren muss, und das wäre eindeutig unangebracht gewesen.
Ich will aber nicht leugnen, dass ich mit dem Leisten meiner Unterschrift das erhebende Gefühl hatte, mal wieder meinen Teil zur Pandemiebekämpfung beigetragen zu haben.

Fast auf die Minute genau 40 Minuten später, bin ich wieder beim Handydoc und hole mein, nun wieder wie neu aussehendes, Smartphone ab.
In der Zwischenzeit ist es recht kühl geworden und ein leichter Regen setzt ein. Erstaunlich, wie sich die Natur bemüht meine persöhnliche Stimmung zu unterstreichen.
Als Radfahrer bin ich natürlich immer auf alles vorbereitet. Ich streife mir meine Regenhose über die Jeans, ziehe die Regenjacke an und fahre Richtung Heimat.
Um dem Tag in Sachen sinnvolle Tätigkeiten noch die Krone aufzusetzen und eventuell meine Stimmung doch noch etwas zu heben, fasse ich den Entschluss, auf dem Rückweg noch bei meiner Lieblingsoptikerin vorbeizuschauen, und meine Brille reparieren zu lassen. Seit geraumer Zeit fehlt mir einer dieser Penöpel, der auf der Nase sitzt.
Haben die Dinger eigentlich einen Namen? Bestimmt haben die einen Namen. Bestimmt irgendwas mit Bindestrich.
Meine Lieblingsoptikerin ist ebenfalls leidenschaftliche Brettspielerin und plaudert immer frei von der Leber weg. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Eine kleine Dosis positive Vibes und eine reparierte Brille.
Ich betrete das Geschäft. Es ist nur ein junger Mann da. Naja, was hatte ich erwartet. Ist schließlich Urlaubszeit. Bestimmt im Urlaub … oder geflohen … aus Essen nach … ach eigentlich egal … hauptsache weg…
Ich wische die Gedanken weg und schildere dem jungen Optiker mein Anliegen. Zwei Minuten später sitze ich wieder auf dem Rad, mit reparierter Brille. Wie einfach und schnell manche Dinge doch gehen können. Ich war nun etwa ein halbes Jahr mit fehlendem Penöpel unterwegs, na egal.
Mittlerweile ist es wieder wärmer geworden und mir tropft so langsam der Saft aus meinem Hosenbein, weil ich immer noch meine Regenklamotten trage. Egal, bin eh gleich zu Hause und dann lege ich mich in Embryonalstellung aufs Bett und warte bis der Tag vorbei ist.

Zu Hause angekommen, klappe ich doch noch kurz den Laptop auf.
Sofort macht mich Facebook netterweise darauf aufmerksam, dass mal wieder eine computergenerierte, 18 Jährige „Schönheit“ aus Kalifornien mit mir befreundet sein will. Da ich weiß, dass es diesen jungen Dingern nur um meinen Körper geht und nicht um mich als Menschen, lösche ich schweren Herzens die Anfrage.
Dabei fällt mir die kleine 2 unter dem Messenger Symbol auf. Ich klicke darauf und sehe zwei neue Nachrichten.
Die erste ist von einer alten Schulfreundin. Ich wundere mich, weil ich weiß, dass diese Unterhaltung bereits mindestens fünf Jahre zurück liegt. Facebook will mir aber weiß machen, dass die Nachricht „erst“ vier Wochen alt sei.
Und tatsächlich: ein langer Text, wie ihn vermutlich nur noch Menschen meines Alters schreiben, denen wirklich was auf dem Herzen liegt. Geschrieben vor vier Wochen, an meinem Geburtstag. Gerührt und erfreut notiere ich mir die darin enthaltene Nummer und beschließe sofort anzurufen.
Die andere Nachricht ist von einer flüchtigen Bekannten, die ich vor etwa zwei Jahren auf einem Spieletreff kennengelernt hatte und der ich von meinem Vorhaben mit dem Brettspielcafé erzählt hatte.
Sie wolle mich nur wissen lassen, dass ihr ein leerstehendes Ladenlokal aufgefallen sei, und für den Fall, dass ich mein Vorhaben noch nicht aufgegeben hätte, was sie sehr hoffe, wäre das ja vielleicht interessant.
Schon wieder spüre ich, wie meine Mundwinkel nach oben zucken.
Ich muss an die Szene aus Zombieland denken, in der Columbo auf eine entsprechende Bemerkung von Tallahassee in sein Notizbuch, mit Regeln für’s Überleben in der Zombieapokalypse, notiert: ENJOY THE LITTLE THINGS!